Deutsches Creepypasta Wiki
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Die kleine Trauergemeinde löste sich auf. Es begann zu regnen, und plötzlich hatten es alle sehr eilig. Auch Ilse Baumann begab sich schnellen Fußes zu ihrem Wagen, den sie an der Friedhofsmauer geparkt hatte. Den schwarzen, teuren Seidenschal fester um sich ziehend, dachte sie fröstelnd an das kalte, einsame Heim, das sie erwartete. Um die trüben Gedanken loszuwerden, beschloss sie, heute in der Firma zu übernachten, wo es genügend Arbeit gab, die solche Anwandlungen wieder vertrieb. Mit geübten Griffen ließ sie den Porsche an. Der kam sofort auf Touren. Wie ein Pfeil schoss er durch den Regen. Ilse Baumann war eine routinierte Fahrerin. Doch plötzlich quietschten die Bremsen. Zu spät hatte sie die Gestalt auf der Fahrbahn bemerkt. Sie versuchte auszuweichen und geriet ins Schleudern. Dabei schlug sie mit dem Kopf auf das Lenkrad und verlor für einen Moment das Bewusstsein. Als Ilse wieder erwachte, stand der Porsche am Fahrbahnrand. Von dem Aufprall noch leicht benommen, blickte sie um sich, und als sie sich überzeugt hatte, dass alles ruhig war, stieg sie aus. Eigenartig, die Straße war unbelebt und der Porsche unversehrt. Und außer dem Regen, der ein klatschendes Geräusch auf dem Asphalt hinterließ, war weit und breit nichts weiter zu hören oder zu sehen. Nachdenklich griff sie sich an den schmerzenden Kopf. Narrte sie etwa ein Spuk – oder war sie schon reif für die Klapsmühle? Sie hatte die Gestalt im Regen doch ganz deutlich gesehen. Um ein Haar hätte sie die Person überfahren ... Ilse blickte noch eine Weile die Straße hinunter, bis die schnell einsetzende Dunkelheit sie zur Weiterfahrt zwang. Aus dem Autoradio erklang ein Hit von Michael Jackson, und in Ilses Kopf schwirrten die Gedanken nur so durcheinander. Um sich abzulenken, summte Ilse den Song mit und zündete sich unbeholfen eine Zigarette an, als plötzlich aus dem Fond des Wagens eine Stimme ertönte: „Würdest du mich ein Stück mitnehmen?“ Der Wagen raste weiter, und Ilse umklammerte krampfhaft das Lenkrad. „Bleib ruhig Mädchen“, murmelte sie, „das ist der Kopf – du phantasierst.“ Sie wühlte suchend im Handschuhfach nach Beruhigungspillen. „Die lass mal schön stecken! Du weißt doch genau, dass das während der Fahrt verboten ist!“, kam es diesmal mahnend aus dem Hintergrund. „Neeein! Du bist längst tot!“, schrie Ilse daraufhin genervt, und der Porsche machte einen Sprung, als im Rückspiegel das fahle Gesicht ihrer Großmutter auftauchte. Der Wagen kam zum Stehen, und Ilse versuchte, hastig die Tür zu öffnen. Doch sie blieb trotz aller Anstrengungen verschlossen. „Gib dir keine Mühe, du musst mich schon mitnehmen“, kam es wieder von hinten. „Herrgott hilft mir denn keiner ... Ich glaube, ich werde verrückt“, jammerte Ilse und rüttelte noch heftiger an der Tür. „Nun reg dich nicht auf! Ich fresse‘ dich schon nicht! Schließlich bin ich deine Großmutter“, schmollte diese jetzt gekränkt. Langsam bekam Ilse sich wieder in die Gewalt. „Was willst du von mir? Bist du ein Geist?“, fragte sie die unheimliche Mitfahrerin mit belegter Stimme. „Geist hin, Geist her, es geschehen auf der Welt oft soviel unerklärliche Dinge – und ich bin eben hier, weil du mich brauchst.“ „Quatsch, ich brauche niemanden", entgegnete Ilse darauf verstört und ließ den Porsche wieder an. Dabei betrachtete sie verstohlen die Gestalt im Spiegel und entdeckte dass die Großmutter eigentlich noch genauso aussah wie vor zwanzig Jahren, als sie die alte Frau verlassen hatte. Dasselbe runde, etwas welke Gesicht, aus dem die großen braunen Augen immer noch gütig und besorgt auf sie blickten. Die schwarzen Haare waren wie damals zu einem zopfartigen Gebilde aufgesteckt, und nichts deutete auf irgendetwas Ungewöhnliches hin. Gerade wollte sie sich in längst vergangenen Kindheitserinnerungen verlieren, als die Großmutter sagte: „Das stimmt nicht! Jeder Mensch braucht mal irgendwann im Leben den Rat des anderen. Besonders, wenn er dabei ist, zu vereinsamen, so wie du.“ „Wie kommst du denn darauf?“, entfuhr es Ilse entrüstet. „Na, was erwartet dich denn jetzt zu Hause, nachdem dein Sohn beerdigt wurde? Doch nur das, was dich schon ein ganzes Leben, bei deinem Streben nach Selbstverwirklichung, begleitet hat: Leere, gähnende Leere." Schaudernd spürte Ilse die Hand der Großmutter auf ihrer Schulter. Kälte durchdrang die dünne Seidenbluse und verursachte ein Kribbeln auf der Haut. „Wie alt bist du jetzt? Vierzig?“ Ilse nickte. „Und – was hast du in diesen vierzig Jahren erreicht?“ „Immerhin leite ich eine große Werbefirma!“ Ärgerlich griff Ilse zur Zigarette. „Ich habe dafür mein ganzes Leben geackert und eine Menge hingeben müssen.“ „Das stimmt! Zuletzt sogar deinen Sohn!“ „Lass bitte meinen Sohn aus dem Spiel! Der ist schon lange aus meinem Leben gegangen. Ihm waren Drogen wichtiger als die eigene Mutter.“ „Hast du nie daran gedacht, warum?“ Der Griff auf Ilses Schulter verstärkte sich und wurde schmerzhaft. „Was spielst du hier – den Racheengel?“ Ilse entzog sich brüsk der klammernden Hand, bevor sie weitersprach: „Natürlich habe ich daran gedacht. Manchmal nächtelang. Aber was sollte ich denn tun? Er war so anders als die anderen, so unzugänglich. Dabei habe ich es ihm doch an nichts fehlen lassen. Er hatte immer genug zu essen, trug die modernsten Klamotten, und über das Taschengeld brauchte er sich auch nicht zu beklagen.“ „Und du meinst, das reichte ihm?“ Die Großmutter schüttelte mit Nachdruck den Kopf. „Kanntest du denn eigentlich deinen Sohn? Hast du dir einmal Zeit genommen, mit ihm, über seine Probleme zu reden? Denn er hatte welche, und er war damit allein, genauso wie du! Ich weiß, es hat dich immer geärgert dass er nicht so stark und zielbewusst wie du war, sondern schwach und verletzlich. Du hättest ihn gern als Klassenbesten gesehen, übersahst aber, dass er auch in der Mitte um Anerkennung rang. Du hasstest seine ewige Nachlässigkeit und sein Desinteresse für Sachen, die du schön fandest. Dabei liebte er dich, mein Kind! Aber du musstest ihn ja verstoßen, als du bemerktest, wie es um ihn stand. Als es keinen anderen Ausweg mehr für ihn gab als Drogen. „Ich habe‘ ihn nicht verstoßen!“ Ilse schluckte. „Ich fand nur keine Erklärung für das, was er tat.“ „Wo warst du eigentlich, als er die tödliche Droge nahm? In der Firma oder in den Armen eines Mannes?“ „Nun halt mal die Luft an!“ Ilse war bis über beide Ohren rot angelaufen. „Seit meiner Scheidung vor sechs Jahren habe ich keinen Mann mehr angesehen! Ich sagte dir doch schon, ich habe geackert! Ich wollte es zu etwas bringen. Ich wollte mein Leben nicht einfach so dahinleben, so wie du, und am Ende namenlos begraben werden.“ Einen Moment war es still im Wagen. Die Großmutter schien nachzudenken. Doch plötzlich fragte sie, während sie es sich in dem gut gepolsterten Sitz bequem machte: „Was hielt dich eigentlich davon ab, zu meiner Beerdigung zu kommen? Ich hatte so auf dich gewartet! Fünf Schlaganfälle hielt ich durch, immer in der Hoffnung, du würdest doch noch erscheinen.“ „Ich hatte geheiratet und wollte soviel wie möglich Kilometer zwischen mir und meinem Elternhaus lassen“, rechtfertigte sich Ilse. „Aber ich habe oft an dich gedacht, und ich wäre bestimmt gekommen, wenn man mich rechtzeitig verständigt hätte. So kam ich erst, als du schon längst beerdigt warst.“ „Ich hab’s gesehen, wie du an meinem Grab gesessen und geweint hast.“ Bissig fügte die Großmutter hinzu: „Aber nicht aus Kummer, weil du zu spät gekommen bist, sondern weil du dringend meinen Rat gebraucht hättest. Du lagst gerade in Scheidung.“ „Es tut mir leid.“ Ilse bog in einen Seitenweg ein. „Ich hätte deine Hilfe wirklich bitter nötig gehabt. Denn damals stand ich an einem Scheideweg. Ich hatte leichtsinnigerweise meine Ideale für einen Mann in den Wind geschrieben und mein Studium aufgegeben. Dafür verbrachte ich dann zwölf Jahre nur in seinem Schatten. Ich konnte nicht mehr länger warten auf das, was eventuell noch kommen würde. Manchmal fragte ich mich, ob das alles im Leben war. Immer nur Abwasch, zerrissene Socken und Kindergeschrei. Einmal im Monat Kino und einmal die Woche Sex. Ansonsten warten – ich ertrug es nicht mehr!“ Von Ilses Beichte seltsam berührt, antwortete die Großmutter: „Ist schon eigenartig, dass immer wieder über Generationen hinweg die gleichen Fehler gemacht werden. Ihr hättet vielleicht miteinander reden müssen und nicht gleich auseinanderlaufen. Du fühltest dich vernachlässigt, er hatte sicher auch seine Probleme." „Ach Omi, wir haben jahrelang so nebenher gelebt, ohne es zu bemerken, und uns immer mehr voneinander entfernt. Er ging seiner Arbeit nach und ich meinen Hausfrauenpflichten, bis es einem von uns über wurde. Dabei waren wir einmal ein so schönes Paar gewesen.“ „Das stimmt!“ Die Großmutter schaute mit einem sonderbaren Lächeln auf Ilse, dass der gleich wieder ein leichter Schauer über den Rücken lief. Die Situation war beklemmend und Ilse rutschte tiefer in den Fahrersitz. „Du bist immer noch sehr schön und mir sogar noch ähnlicher geworden. Äußerlich, meine ich. Denn für mich bedeuteten Haushalt, Mann und Kinder sehr viel. Aber ihr seid ja heute ganz anders erzogen“, stellte die Großmutter fest. „Das hat nichts mit Erziehung zu tun. Ich stand schon seit eh und je in irgendeinem Schatten. Und wenn es nur der meines Vaters war, der mir die Jugend vermieste.“ „Ja, dein Vater ...“ Die Großmutter kratzte sich verlegen am Kopf. „Bei dem sind mir leider ein paar Erziehungsfehler unterlaufen. Der hat aber mit seinem selbstsüchtigen, hartherzigen Charakter nicht nur dir das Leben zur Hölle gemacht.“ „Ich hatte jedenfalls nie einen Platz in seinen Herzen. Wenn irgendjemand Zugang dazu fand, dann waren es seine Weiber“, bemerkte Ilse trocken. „Aber im Gegensatz zu deinem Sohn hattest du einen Menschen, bei dem du dich ausweinen konntest.“ „Das stimmt! Du hast mir oft geholfen und eine Menge beigebracht. Ohne dich wäre ich nie so willensstark geworden und hätte nie meine Träume verwirklichen können.“ Erstaunt hob die Großmutter die Brauen und fragte ärgerlich: „Waren das denn deine Träume? Chefin einer Werbefirma zu werden? Einmal im Jahr in den Urlaub fahren, teure Klamotten tragen, bis zum Umfallen schuften und ansonsten – nichts als Leere und Einsamkeit? „Wenn man wie ich über Jahre für andere den Dreck wegräumt, immer den Buckel krumm macht und jeden Pfennig zweimal umdreht – dann sind das eben meine Träume“, entgegnete Ilse wütend. Eine Zeitlang blieb es still im Porsche. Bis die Großmutter plötzlich traurig feststellte: „Dabei habe ich dich gelehrt, dass Blumen blühen, Bäume wachsen und Vögel singen. Ich habe versucht in dein Herz Wärme und Güte zu pflanzen. Doch was hast du daraus gemacht? Was nützt dir jetzt dein Geld ohne die Liebe der anderen? Was nützt dir deine Selbstverwirklichung?“ Und mit den Worten: Ach, Kind, wenn du wüsstest, wie arm du bist!“ verschwand sie genauso, wie sie gekommen war.  Ilse wurde plötzlich von einer lähmenden Müdigkeit befallen. Sie schaffte es gerade noch, den Porsche am Straßenrand abzustellen, als sie der Schlaf auch schon eingeholt hatte.

Am nächsten Morgen fand die Polizei einen Porsche einsam am Fahrbahnrand stehen. Seine Fahrerin war tot. „Schädelbasisbruch“, sagte der Arzt, „sie muss noch lange Zeit damit gefahren sein.“

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