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Büro des Polizeihauptkommissars Christopher Gera.

„Das sollen Ihre Berichte sein, Frau Schneider?“ Das Erdmännchengesicht von Christopher Gera lief rot an vor Wut. Seine kleine Brille mit dem silbernen Gestell hüpfte leicht im Takt seiner berüchtigten, ruckartigen Kopfbewegungen. Speichel spritzte in alle Richtungen. „Ja.“ erwiderte Betina Schneider kleinlaut. Sie war noch neu in der Abteilung, und niemand hatte sie vor dem zutiefst cholerischen Wesen ihres Vorgesetzten gewarnt.

„Dann sollten Sie sich schon mal ein hübsches Fleckchen auf dem Strich aussuchen, denn mit so einer Inkompetenz haben Sie in meiner Abteilung keine Zukunft!“

Betina erbleichte. Die Tränen standen ihr in den Augen, aber sie hielt sie tapfer zurück, womit sie mehr Nervenstärke bewies als so einige ihrer Vorgänger.

Gera atmete tief durch und verlor wieder etwas von seiner kirschroten Gesichtsfarbe. Stattdessen lächelte er zuckersüß. „Es tut mir leid, Frau Schneider. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Und ich gebe ihnen auch noch eine Chance. Bis morgen früh habe ich das hier in ordentlicher Form vorliegen. Ein bisschen mehr Sorgfalt und wir beide werden sicher beste Freunde.“

Betina nickte erleichtert, auch wenn sie wusste, dass das einige Überstunden bedeuten würde. Aber das war im Polizeidienst ohnehin mehr die Regel als die Ausnahme. Trotzdem fühlte sie sich ungerecht behandelt. Immerhin hatte man sie in ihrer beruflichen Laufbahn stets für ihre Sorgfalt gelobt. Dieser aufgeblasene Idiot war der erste, der das anscheinend völlig anders sah.

„Danke!“ flüsterte sie deshalb in einer Mischung aus Dankbarkeit und mühsam unterdrücktem Hass.

Gera nickte gönnerhaft. „Keine Ursache, Frau Schneider. Ich denke, Sie haben einfach eine zweite Chance verdient… Vor allem, da sie für den Strich ohnehin viel zu hässlich sind. Wer würde schon mit Ihnen vögeln wollen?“

Nun platzte Betina der Kragen. „Was fällt ihnen ein, Sie Arschloch? Das lasse ich mir nicht bieten. Ich werde sie verklagen, wegen…“

Gera legte den Finger auf die Lippen. „Ganz ruhig, meine Liebe. Bevor Sie etwas tun, dass Sie bereuen, sollten Sie bedenken, dass mir eine Menge Richter noch den ein oder anderen Gefallen schulden. Und Zeugen haben Sie auch keine. Also würde ich an Ihrer Stelle eine brave, dumme, hässliche Tussi sein und meine letzte verfickte Chance nutzen, hier nicht rauszufliegen!“

Betina durchbohrte ihn mit Blicken, und einen Moment lang erwartete Gera, die dampfende Kaffeetasse auf den Kopf zu bekommen, die auf seinem Schreibtisch stand. Aber Betina Schneider schwieg und ging nach einem weiteren wütenden Blick mit stampfenden Schritten davon. Gera grinste breit. Wieder ein Sieg! Langsam wurde es aber auch ein wenig langweilig. Insgeheim hoffte er, dass dieses missratene Stück Inkompetenz ihn doch verklagen würde. Das wäre bestimmt ein Spaß. Es musste dort draußen doch noch Leute geben, die ihm etwas Widerstand boten.

Hoffmann, der bereits wenige Augenblicke später gegen die Glasscheibe seine Büros klopfte, gehörte jedenfalls nicht dazu. Der dünne, blasse Junge mit seinen mickrigen Bartstoppeln, der unreinen Haut und der lächerlichen, schwarzen Mütze wirkte selbst mit seinen 38 Jahren noch, als wäre er mitten in der Pubertät stehengeblieben. Außerdem war er Alkoholiker. Was für ein Klischee. Gera hasste Klischees. Fast so sehr wie Menschen.

„Hallo… Hallo, Herr Gera. Hätten Sie vielleicht kurz Zeit?“

Gera blickte ruckartig von seinem Schreibtisch hoch und schob seine Brille zurück, während er sich ein weiteres Lutschbonbon mit Zitronengeschmack in den Mund schob und krachend darauf herumkaute. Eine kleine Marotte von ihm.

„Ob ich Zeit habe? Natürlich. Ich bin ein nie versiegender Quell der Zeit. Ich drehe hier im Grunde den ganzen Tag Däumchen. Das sollten Sie eigentlich bemerkt haben. Wenn ich nicht gerade Golf spiele, lasse ich mir die Eier kraulen, bin bei YouPorn unterwegs oder lackiere mir die Fingernägel mit Bildern von pissenden Einhörnern. Jedenfalls dann, wenn ich nicht gerade darauf warte, dass mich pickelige Hackfressen mit ihren Problemchen nerven. Also ruhig raus mit der Sprache.“

Hoffmann errötete und fing an zu stottern. War er hier eigentlich im Kindergarten gelandet?

„Aber… es… es… is… ist… wichtig, Sir.“

„Sir? Halten Sie mich für einen Ritter? Seien Sie froh, dass ich keiner bin. Sonst würde ich Ihnen mehr als nur das Wort abschneiden. Was ist jetzt so verdammt wichtig? Reden Sie! Und zwar in ganzen Sätzen, wenn ich bitten darf. Und wenn sie gleich vor Schüchternheit auf meinen Teppich pinkeln, dann lecken Sie ihn mit Ihrer Zunge wieder sauber.“

„Nein. Werde ich nicht. Also pinkeln meine ich… also Sie kennen doch das Wäldchen ein paar Kilometer von hier entfernt. Dort sind drei Leichen gefunden worden, die ziemlich übel aussahen. Man konnte sie bislang noch nicht identifizieren. Zwei weitere Personen, die dort unterwegs waren, werden noch vermisst, und dann gibt es da noch einen Zeugen, der angeblich gesehen hat, was die drei Menschen getötet hat. Er… Er meinte, dass riesige Maden dafür verantwortlich seien. Größer als die meisten Hunde und …“

Gera verschluckte sich hustend an den Bruchstücken seinem Bonbons, lief rot an, würgte es dann aber wieder hoch und spuckte Hoffmann die Reste direkt in sein Pickelgesicht.

„Herr Hoffmann. Haben Sie LSD geschmissen und dabei Akte X geschaut und halten sich jetzt für eine inkompetente, akneverseuchte Kopie von Mulder? Oder haben Sie einfach nur wieder gesoffen? Wir wissen beide, dass Sie Ihr Leben in wenigen Jahren einsam und in ihrer eigenen Kotze liegend auf der Straße beenden werden. Und das ist mir auch scheißegal. Aber bis dahin machen Sie ordentliche Polizeiarbeit oder Sie landen noch viel früher in der Gosse.“

Hoffmann stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Bald würde er wieder zu durcheinander sein, um verständlich zu reden.

„A… Aber das ist doch nur das, was der Zeuge sagt. Und die Leichen sehen wirklich seltsam aus. Hier, sehen Sie selbst!“

Hoffmann warf ihm eine Hand voll Polaroids auf den Schreibtisch. Gera beugte sich herunter und schmiss sich zuvor noch ein neues Lutschbonbon ein. Leider hatte er kein Popcorn. Er liebte Fotos von Mordopfern. Das war besser als jede Fernsehserie.

Und das hier waren in der Tat ganz besondere Leckerbissen. Keines der Gesichter war mehr zu erkennen. Sie waren vielmehr aufgelöst und hatten sich zu einer teigigen Masse aus Haut und Fleisch vermischt. Einem der Opfer fehlte der Arm, dem zweiten sogar alle Gliedmaßen. Das dritte bestand sogar nur noch aus Haut und Knochen. Es war, als hätte ihm etwas das gesamte Muskel- und Fettgewebe entfernt.

„Hoffmann. Ich überlasse sie fürs erste dem Elend Ihrer Existenz. Das hier werde ich mir persönlich ansehen müssen.“

Natürlich hatte Gera zuvor noch mit dem Zeugen geredet. Doch obwohl er den Mann – wie üblich – härter rangenommen hatte, als es die Dienstvorschriften eigentlich erlaubten, hatte er keine weiteren Informationen aus ihm rausbekommen. Immerhin hatte er das Gefühl, dass der Mann nicht log. In seiner Gegenwart log eigentlich niemand mehr. Das hatte Gera so an sich. Vielleicht hätte er dem Mann nicht den Zeigefinger brechen sollen. Immerhin war er ja streng genommen nicht einmal wirklich ein Verdächtiger. Aber es war amüsant gewesen und hatte ein wenig den schwer kontrollierbaren Zorn gemindert, der eigentlich fast immer in ihm brodelte.

Jetzt aber stand Gera direkt vor dem besagten Waldstück, in dem sich die rätselhaften Morde ereignet hatten, und damit vor einem großen Problem. Dieser Milchbubi Hoffmann hatte nämlich mit keinem Wort erwähnt, dass der Tatort inzwischen zum Sperrgebiet erklärt worden war. Ein zwei Meter hoher Zaun mit Stacheldraht und eine ganze Reihe von Wichtigtuern in Tarnfleckkleidung sprachen hier eine sehr deutliche Sprache. Wie er solche Leute verabscheute.

Sie würden ganz sicher mit ach so höflicher Strenge darauf hinweisen, dass sie ihn leider nicht durchlassen können. Anordnung von höchster Stelle. Sie befolgen ja nur Befehle. Bla Bla Bla. Aber nicht mit ihm. Nicht mit Christopher Gera. Schnurstracks bewegte er sich auf die einzige Öffnung im Zaun zu, an der ein großer muskulöser Kerl Ende Dreißig mit Stiernacken und Dreitagebart Wache hielt und dabei ein großes Sturmgewehr im Anschlag hielt.

Was zum Teufel sollte all dieser Aufwand? Langsam wurde die Sache wirklich mysteriös. Am Ende hatten Hoffmann und dieser verwirrte Zeuge doch noch die Wahrheit gesagt. Er würde es herausfinden. Das war ihm inzwischen wichtiger als die Leichen von irgendwelchen unachtsamen Loosern.

„Halt!“ rief der Wachposten, als Gera sich dem Durchgang bis auf wenige Schritte genähert hatte. Die Stimme des Mannes war tief und brummig. Sein Gesicht ausdruckslos.

Gelassen kramte Gera seine Marke raus und streckte sie dem Mann seinerseits wie ein geladenes Gewehr entgegen. „Polizeihauptkommissar Gera. Ich bin hier, um den Tatort eines Dreifachmordes zu inspizieren.“

Der Mann behielt seinen steinernen Gesichtsausdruck bei. „Tut mir leid, Herr Kommissar. Leider kann ich nicht einmal Sie passieren lassen. Es handelt sich um eine geheime Regierungsoperation. Nur Personen mit der entsprechenden Sicherheitseinstufung können…“

„Schwachsinn!“ unterbrach Gera den Mann barsch, während das Lutschbonbon in seinem Mund wütend krachte. „Als Polizist unterstehe ich ebenfalls der Regierung. Schon einmal den Begriff „Exekutivorgan“ gehört?“

Der Wachposten verzog keine Miene. Er schüttelte nur den Kopf. „Natürlich. Aber trotzdem kann ich Sie nicht reinlassen.“

„Ach? Das können Sie nicht?“ Die kleinen, braunen Augen hinter Geras Brille verengten sich. Sein Ton wurde eiskalt. „Woher weiß ich überhaupt, dass Sie von der Regierung beauftragt sind? So wie Sie aussehen, könnten Sie sich genauso gut auch einfach nur auf den Karneval vorbereiten oder auf Ihre Saufkumpane vom Schützenverein warten. Wo ist Ihr verdammter Ausweis, Sie aufgeblasener Tarnfleckballon?“

Nun wirkte der Mann zum ersten Mal ein klein wenig wütend. Endlich, dachte Gera. „Kein Grund, so ordinär zu werden. Jedenfalls bin ich nicht verpflichtet, Zivilisten irgendwelche Dokumente oder Ausweise zu zeigen. Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen.“

Gera lief rot an. „Und ich muss Sie bitten, sich selbst einen zu blasen. Es geht hier um einen verfickten Mordfall. Also gehen Sie sich jetzt irgendwo ein Eis holen und lassen mich meine Arbeit machen!“

Nun wurde es dem Wachposten anscheinend zu bunt. „Sie werden jetzt sofort von hier verschwinden, oder…“

„Oder was? Wollen Sie etwa die Polizei holen?“

Der Mann beugte sich zu Gera herunter. Sein Stiernacken zuckte bedrohlich. „Nein. Dort, wo ich Sie hinbringen könnte, gibt es keine Polizei. Und Guantanamo Bay ist dagegen eine mustergültig rechtsstaatliche und öffentliche Institution. Sie packen jetzt also besser Ihre Marke wieder ein und verpissen sich hinter Ihren Schreibtisch. Haben wir uns verstanden?!“

Gera mochte ein Unsympath und Choleriker sein, aber er war kein Narr. Er wusste, wann er verloren hatte. Die Schlacht. Nicht den Krieg.

Ein bereits recht heller Dreiviertelmond stand am Himmel, als Christopher Gera sich erneut an der Grenze zum Wald befand. Er hatte den Tag damit verbracht, sich vorzubereiten und das Gelände so gut auszukundschaften, wie es ging, ohne in die Fänge dieser Sicherheitsleute zu gelangen. Außerdem hatte er ein wenig telefoniert. Er hatte sein weites Netz an Kontakten aktiviert, um herauszufinden, ob tatsächlich eine geheime Militäroperation in dieser Gegend geplant war. Aber: Fehlanzeige. Wer immer sich da so aufspielte, hatte nichts mit dem Militär, den Behörden oder der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu tun. Dieser Fakt fachte die Neugier in Gera nur noch weiter an. Natürlich hätte er den ganzen Schwindel jetzt im großen Stil auffliegen und das echte Militär oder zumindest ein SEK der Polizei anfordern können, aber dann wäre der Tatort sicher nicht mehr wiederzuerkennen gewesen, und er hätte garantiert nicht erfahren, was hier sonst noch abging.

Also musste er die Sache allein untersuchen. Und dank seiner Hartnäckigkeit hatte er auch erfahren, wie er das anstellen konnte. Zwar mochte der Zaun hoch und von Stacheldraht bedeckt sein, stand wahrscheinlich auch noch unter Strom und schloß wirklich das ganze Waldgebiet ein, aber einen Faktor hatten diese Uniformaffen dennoch nicht bedacht: Die Natur. Denn praktischerweise hatte Gera eine Stelle entdeckt, an der er problemlos hinübergelangen konnte. Er brauchte dafür nur auf einen Baum zu klettern, der direkt vor dem Zaun stand, einen kleinen Sprung wagen und dann elegant wieder vom nächsten Baum herunterkletten, der praktischerweise direkt hinter dem Zaun stand.

Zwar erforderte das ein wenig Akrobatik und Geschick, aber das sollte eigentlich kein Problem sein. Christopher Gera war zwar schon Mitte Vierzig und nicht wirklich ansehnlich, aber auch nicht gerade untrainiert. In seiner Freizeit war er seit vielen Jahren Amateurboxer. Er liebte es einfach, Leuten die Visage zu polieren und sie mit etwas Glück sogar Stück für Stück in Schwachsinnige zu verwandeln, indem er ihre empfindlichen Schädel und Gehirne demolierte. Entsprechend gut waren seine Muskeln ausgebildet, auch wenn er sie gerne unter seinem Anzug versteckte. Understatement. Eine kleine Kletterpartie war jedenfalls ein Kinderspiel für ihn.

Im Nu war er auf den dichten Baum geklettert, wobei er trotzdem die Augen offenhielt und auf jede verdächtige Bewegung achtete. Der Sprung auf den nächsten Baum war schon etwas schwieriger, zumal immer wieder Windböen kamen, die die Wipfel gefährlich schwanken ließen, und sich unter ihm der verdächtig summende Stacheldrahtzaun erstreckte. Also doch ein Elektrozaun. Wie zum Teufel hatten die das Ding so schnell hochgezogen? Der Zeuge hatte die Leichen gestern Nacht erst entdeckt, und ganz offensichtlich hatte es da noch keinen Sperrzaun gegeben. Aber das war jetzt auch egal.

Als der Wind endlich aussetzte, katapultierte sich Gera mit einem beherzten Sprung auf den nächsten Baum. Einen beschissenen Moment lang fand er keinen richtigen Halt und drohte mit seinen Genitalien auf dem Zaun zu landen, aber dank seiner guten Reflexe schaffte er es nachzufassen und sicheren Halt in der Baumkrone zu finden. So leise und vorsichtig wie es all das Adrenalin in seinem Körper erlaubte, stieg er hinab und landete federnd auf dem weichen Waldboden. Seine Finger waren voller Harz und kleiner Holzsplitter, aber trotzdem hatte er diesen lächerlichen Zaun überwunden. Wieder einmal hatte Christopher Gera das erreicht, was er wollte.

Leider blieb ihm nicht viel Zeit, seinen Sieg über diese Pseudo-Militärdödel zu feiern. Denn bereits wenige Sekunden, nachdem er vom Baum gestiegen war, hörte er zwei Stimmen, die sich leise unterhielten und sich eindeutig in seine Richtung bewegten.

Hektisch suchte er nach einem Versteck und kauerte sich zuletzt hinter einem dichten Dornbusch zusammen, der zwar seine Hose durchstach und ziemlich fies im Arsch piekste, aber immerhin ausreichend Sichtschutz bot. Sein Versteck hatte er dabei keine Sekunde zu früh erreicht, denn schon hörte er zusätzlich zu den Stimmen auch noch Schritte und konnte das Gespräch bereits verstehen.

„… ist aber trotzdem eine verdammt gruselige Scheiße. Ich meine: Ich wusste ja, dass ich mich auf seltsamen Kram gefasst machen muss. Was sollte man auch sonst erwarten, wenn man bei einer derart geheimen Nummer mitmacht. Aber das hier? Ich meine: riesige Maden, Uwe. Wenn das nicht abgefuckt ist…“

„Nicht so abgefuckt wie das, was sie mit dir anstellen, wenn du nicht endlich die Klappe hältst. Denkst du, sie nennen es „Geheim“, weil es hier jeder laut durch die Gegend schreit? Red lieber wieder über deine Filmsammlung. Das ödet mich zwar an, aber wenigstens wird es uns nicht den Kopf kosten …“

„Warte!“ Gera hörte, wie die Schritte der Männer stoppten. Er legte die Finger um seine frisierte Dienstwaffe mit Schalldämpfer. Sobald er auch nur einen Zipfel Haut von diesen Kerlen entdeckte, würde er abdrücken. Gera hatte noch nie viel Skrupel gehabt, von der Waffe Gebrauch zu machen. Und nun war sicher kein Grund, damit anzufangen.

„Was ist denn?“

„Ich habe da was gehört!“

„Na und? Das wird garantiert eine dieser Maden sein. Und nun komm und lass uns endlich was essen!“

„Wenn du meinst. Ich hoffe nur, die setzen uns keinen Madeneintopf vor. Ich habe gehört, dass die das Einige fressen lassen und dass die davon total den Verstand verlieren.

„Dann hast du ja nichts zu befürchten.“

Die Stimmen wurden wieder leiser. Sieht so aus, als hätten die Beiden Glück gehabt. Gera steckte seine Waffe wieder ein. Er konnte kaum glauben, was er da gehört hatte. Anscheinend war er hier einer ziemlich großen Sache auf der Spur.

Da er keinen anderen Anhaltspunkt hatte und sicher nicht schon jetzt wieder umkehren wollte, ging er grob in die Richtung, in welche die beiden Sicherheitsleute verschwunden waren. Dabei musste er höllisch aufpassen, um im blassen Mondlicht nicht zu stolpern. Zwar hatte er eine Taschenlampe dabei, traute sich aber nicht, sie einzusetzen, da man ihn sonst spielend leicht entdeckt hätte. Unterwegs hörte er immer wieder ein Rascheln im Gebüsch, und auch wenn er ein abgebrühter Mistkerl war, so konnte er doch die ein oder andere Gänsehaut nicht vermeiden. Es kam aber vorerst zu keinem weiteren Zwischenfall.

Dafür wurde es im Wald immer stiller, je weiter er ging. Bald schon hörte er keine Grillen mehr zirpen, keine Nachtvögel rufen, und auch Unterholz und Pilze verschwanden nach und nach. Es war, als hätte irgendetwas – einem Blutegel gleich – das Leben aus diesem Wald gesaugt. Kurz darauf begannen die Bäume seltsam zu werden. War ihre Rinde anfangs noch so rau und unregelmäßig wie die Pickelfresse von Hoffmann, so waren sie jetzt so glatt und makellos wie der Lauf seiner Waffe. Nur dass sie nicht schwarz, sondern blendendweiß im Mondlicht leuchteten. Als er sie einmal aus Neugier mit der Hand berührte, bestand für ihn kein Zweifel mehr. Sie bestanden aus Knochen.

Von Zeit zu Zeit ergab sich Gera dem Kitzel, den ein oder anderen Friedhofsbewohner von seinem engen Sarg zu befreien und sich mit ihm zu vergnügen. Oder auch seinen Zugang zur Gerichtsmedizin dafür zu nutzen. Ausschließlich Frauen versteht sich. Er war ja nicht pervers.

In der Regel bevorzugte er Frischverstorbene, aber manchmal musste man eben nehmen, was man bekommen konnte. Natürlich tat er das nicht dauernd. Aus logistischen und karrieretechnischen, aber auch aus gesundheitlichen Gründen. Nekrophilie war ein Spiel mit dem Feuer. Trotzdem kannte er das Gefühl von Knochen auf blanker Haut nur zu gut. Dass sie aber in Form von Bäumen aus dem Boden wuchsen, war ihm neu.

Je weiter er ging, desto mehr dieser eigenartigen Bäume erschienen am Wegesrand. Bald wuchs auch kein Gras mehr, und auch sonstiges Leben zeigte sich nicht länger. Der Waldboden war hier so glatt und unfruchtbar wie Laminat.

Irgendwann endeten auch die dichten Reihen der knochenartigen Bäume abrupt. Dafür sah Gera nun einen weiteren abgezäunten und mit hellen Scheinwerfern beleuchteten Bereich, in dem es mehrere zeltartige Unterkünfte gab. Und auch einige kleine Metallkäfige, in denen sich anscheinend Menschen befanden. Im Mittelteil des Bereiches, der etwas tiefer lag und über eine Art Rampe mit dem Rest des Areals verbunden war, stand eine große, durchsichtige Kuppel, in der sich etwas Riesiges und Weißes befand, dass er von hier aus nicht genau erkennen konnte, dass sich aber eindeutig bewegte.

Neugier brannte wie ein dunkles Feuer in Geras Brust ,und doch war es riskant, sich von der Baumgrenze zu entfernen. Hier würde ihn jeder sehen können. Auf der anderen Seite konnte er bis jetzt keinerlei Wachleute entdecken. Anscheinend hielten die Verantwortlichen die Sicherung im Außenbereich für ausreichend. Auch die beiden Wachleute, deren Unterhaltung er belauscht hatte, waren nirgends zu entdecken. Wahrscheinlich waren sie bereits in eine der provisorischen Unterkünfte verschwunden und stopften sich ihre Bäuche voll. Dennoch musste er immer noch den Zaun überwinden, der zwar kleiner als der Eingangszaun war, aber in dessen Nähe leider auch keine Bäume standen. Trotzdem könnte er es versuchen, wenn dieser Zaun nicht ebenfalls unter Strom stand.

Es wäre trotzdem klug gewesen, wieder zu verschwinden, aber von Zeit zu Zeit überwanden Geras Triebe und Impulse seinen durchaus scharfen Verstand. Und dies war einer dieser Momente. Also ging er so schnell und leise wie möglich auf die Stelle am Zaun zu, die den besten Sichtschutz bot. Doch kaum war er dort angekommen, bemerkte er, dass er sich vielleicht die falsche Stelle ausgesucht hatte.

„Hey! Sie!“ drang das verzweifelte Flüstern eines hageren, dunkelhaarigen Mannes an sein Ohr, der zusammen mit einer kleinen, nicht minder dünnen, blonden Frau in einem der stählernen Käfige eingepfercht worden war. Ausgerechnet direkt in der Nähe des Zauns.

„Helfen Sie uns! Holen Sie uns hier raus! Die werden uns sonst töten. Oder Schlimmeres!“

Gera drehte seinen Erdmännchenkopf ruckartig zu den beiden und sah sie streng durch seine kleine Brille an: „Ich bin Polizist. Ich BRINGE Leute in den Knast. Ich hole sie NICHT dort raus.“

Das Gesicht des Mannes nahm einen fassungslosen Ausdruck an. „Aber wir sind doch keine Kriminellen. Wir sind Opfer. Die haben uns aufgelauert – mir und Lena –, als wir spazierengegangen sind. Sie müssen uns helfen.“

Diese Ausdrucksweise gefiel Gera ganz und gar nicht. „Ich muss gar nichts!“ sagte er barsch. „Aber Sie müssen schweigen. Denn wenn Sie noch einen einzigen Mucks von sich geben oder mich auf andere Weise verraten, knalle ich Sie ab!“ Um seinen Willen dazu zu demonstrieren, zog er tatsächlich seine Waffe und richtete sie auf das verzweifelte Gesicht des Mannes.

Dem Mann liefen Tränen übers Gesicht, und seine Augen durchbohrten Gera wie vergiftete Dolche, während seine Frau apathisch in der Ecke lag. Aber die Beiden gaben keinen Ton mehr von sich. Und nur darauf kam es an.

Gera warf einen kleinen Ast gegen den Zaun, den er praktischerweise zuvor eingesammelt hatte. Keine Funken. Es war also kein Elektrozaun. Ohne weiter zu zögern, begann Gera damit, über den Zaun zu klettern.

Er überwand den Zaun ohne Probleme und konnte noch immer keinen der Sicherheitsleute ausfindig machen. Also ging er auf die seltsame, durchsichtige Kuppel mit dem weißen Ding zu, wobei er jede Deckung ausnutzte, die er fand. Sicher war sicher.

Nach einer Weile kam er zu der riesigen Rampe, die hinunter in das Areal führte, wo sich die Kuppel befand. Inzwischen war er nah genug, um zu erkennen, dass das weißliche Ding von unzähligen ebenfalls weißen Punkten umgeben war, die um es herumliefen und zum Teil auch aus ihm heraus(!)kamen. Wilde Aufregung, wie er sie nicht einmal gefühlt hatte, als er sich die ersten Leichen zu seinem Vergnügen besorgt hatte, ergriff ihn, und auch wenn die Rampe glatt und steil und wahrscheinlich eher für Fahrzeuge als für Menschen gedacht war, rannte er sie so schnell herunter, wie er konnte.

Dabei kam es so, wie es kommen musste. Kurz vor ihrem Ende blieb sein Fuß an einem Stein hängen, und er stürzte der Länge nach hin und schlitterte mehrere Meter, bis er mit dem Kopf schmerzhaft gegen die Kuppel stieß. Seine Handflächen und Knie waren aufgerissen und brannten, und als er sich aufrichtete, pochte und dröhnte sein Kopf wie eine ganze Fabrik. Immerhin wusste er jetzt, dass die Kuppel nicht aus Glas bestand, sondern höchstwahrscheinlich aus irgendeiner Art von Kunststoff. Als er sich vollständig aufgerichtet hatte, erkannte er auch, warum.

Denn zum ersten Mal sah er die weißliche Kreatur hinter der Kuppel im Detail. Es war eine fleischige, aufgedunsene Made von enormer Größe und aufrechter Körperhaltung, deren Höhe sicherlich fünf Meter oder mehr betrug. Ihr Körper bestand aus wulstigen weißen Ringsegmenten, deren Größe nach unten hin stetig zunahm. Unter ihrem Leib besaß die Kreatur eine Reihe kleiner Beine, die zerbrechlich aussahen, aber unglaublich belastbar sein mussten, da sie neben dem gewaltigen Oberkörper auch noch einen grotesk aufgeblähten Unterleib tragen mussten, aus dem alle paar Sekunden neue, kleine Maden ausgespuckt wurden. Von diesen Winzlingen verendeten zwar die allermeisten schon nach kurzer Zeit, einige überlebten aber ganz offensichtlich, wie die sicher hundert kleineren Maden bewiesen, die sich bereits um Ihre Königin geschart hatten.

Außerdem besaß das Ungeheuer – ungefähr in seiner Körpermitte – zwei lange, dünne Arme, die ein wenig an die scharfen Sichelgliedmaßen einer Gottesanbeterin erinnerten. Ihr Kopf bestand aus einem kreisrunden Maul mit flachen, messerscharfen Zähnen und zwei schwarzen Punktaugen, die größer als Autoreifen waren. Dennoch strahlte aus diesen Augen eine schwer zu fassende Intelligenz, die Christopher Gera ohne jeden Zweifel einen schmerzvollem, grauenhaften Tod versprach.

Kein Glas der Welt hätte einen solchen Giganten aufhalten können. Es musste sich bei dem Material um eine hochmoderne Kunststoffverbindung handeln. Wie um seine Worte zu bestätigen, holte die Made wenige Momente später mit ihren beiden Gliedmaßen aus und schlug hart gegen die Wand der Kuppel. Es gab einen lauten Knall, die Kuppel erzitterte heftig und Gera merkte, wie er sich vor Angst einnässte. Aber die Kuppel hielt.

Trotzdem war die Wut der Kreatur nicht verraucht, und auch die anderen Maden drückten sich nun gegen die Kunststoff-Kuppel, wobei sie die Oberfläche mit schmierigen weißen Sekreten benetzte, die dem Material aber glücklicherweise nichts anhaben konnten.

Gera atmete vor Erleichterung auf, als er plötzlich fühlte, wie seine Hände brutal nach hinten gedrückt und in Handschellen gepresst wurden. Normalerweise hätte er sich gegen einen solchen Angriff mit Klauen und Zähnen gewehrt, aber er war noch viel zu erschüttert vom Anblick dieser bizarren Kreatur, um seinen Reflexen trauen zu können.

„Sie kommen jetzt mit uns!“ hörte er eine Stimme, die anscheinend einem der beiden Sicherheitsleute gehörte, die er vorhin belauscht hatte. Im selben Moment spürte er einen kurzen, dumpfen Schmerz am Hinterkopf, gefolgt von gnädiger Schwärze.

Gera erwachte mit höllischen Kopfschmerzen unter kaltem weißen Licht in einer hell ausgeleuchteten, weiß lackierten Zelle. Er steckte noch immer in seiner eingenässten Hose, was ihm zwar nicht peinlich war – Christopher Gera war nie etwas peinlich –, aber ihn wegen des Gestanks dennoch störte. Sein Gefängnis hatte keine Gitterstäbe, sondern bestand aus durchsichtigen Trennwände, die – davon war er überzeugt – aus demselben unzerstörbaren Material bestanden, aus dem auch das Kuppelgefängnis der monströsen Maden gefertigt war. An ein Entkommen war vorerst nicht zu denken.

Zu allem Überfluss war er auch nicht allein. Denn in der Zelle neben ihm saß ein von Schnitten, Prellungen und blauen Flecken übersäter Mann ca. Mitte Dreißig mit einem zerrissenen, braunen Jacket und einem völlig unangemessenen Lächeln, der ihn mit seinem überheblichen Akademikergesicht ein wenig an die verhassten Streber aus seiner Schulzeit erinnerte. Oder noch schlimmer: An die Lehrer. Gera hasste diesen Kerl sofort.

„Hey! Endlich sind Sie wach. Mein Name ist Dr. Jonathan How. Und wer sind Sie?“

Knochenwald-Serie:


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