Deutsches Creepypasta Wiki
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Ich saß weit oben, auf den hohen, schroffen Steilklippen, viele, viele Meter über dem Ozean. Das tosende Meer schlug in der Tiefe unter mir gurgelnd gegen die Felsen, Wassertropfen schlugen mit kalter, sprudelnder Gischt zu mir herauf. Zögerlich schaute ich hinunter und beäugte misstrauisch die schlagenden Wogen unter mir. Doch an all dem war nichts besonderes und ich kannte diese Welt schon mein ganzes Leben lang, denn ich war eine junge Seemöwe. Meine Eltern hatten mich hier oben auf diesen Klippen, in einem kleinen, heimeligen Nest zwischen den dicken Steinbrocken, mit aller Hingabe aufgezogen, seit ich geschlüpft war. Mich, und mein älteres Geschwisterchen.

Und nun war es so weit. Wir beide sollten flügge werden und den riskanten Sprung in die Tiefe wagen. Mein älteres Geschwisterchen war bereits erfolgreich gesprungen und saß nun, zusammen mit meinen Eltern, quäkend auf den spitzen Felsen, welche einige Meter unter mir aus dem wild peitschenden Wasser aufragten. Ich betrachtete die schäumenden Wogen erneut misstrauisch. Den Mut, auch zu springen, fand ich jedoch nicht. Nicht so allein, hoch oben auf den Klippen.

Überrascht fiel mein Blick auf eine weitere Springerin, welche ebenfalls auf den Klippen stand und hinunterschaute. Sie musste wohl neu hinzugekommen sein und gehörte nicht meiner Art an, obwohl sie dieselbe Absicht zu haben schien wie ich. Sofort lag all meine Aufmerksamkeit auf ihr. Sie wollte ebenfalls springen, genau wie ich! Voller Freude erhob ich mich aus dem Nest, in dem ich saß, den Blick noch immer auf ihr lagernd, und flatterte aufgeregt mit meinen jungen Schwingen.

Die andere Springerin schien genauso nervös wie ich, vielleicht sogar noch unentschlossener. Sie beachtete mich jedoch nicht – das Einzige, was sie tat, war, melancholisch ins Wasser hinunter zu starren. Alles andere schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Meiner Interesse tat dies jedoch keinen Abbruch. Immerhin war ich jetzt nicht mehr die Einzige, die auf den Klippen auf eine günstige Gelegenheit wartete. Wir würden ja zusammen springen können! Schließlich war es gemeinsam viel einfacher als allein.

Die Springerin dort oben beugte sich ein Wenig vor, sie schien zu prüfen, wie viele Meter es nach unten führte. Vierzig Meter – dies wusste ich schon mein ganzes Leben lang. Würde ich abstürzen, würde ich auf dem Wasser aufschlagen und entweder zerschmettert werden oder ertrinken. Die Angst vor dem Sterben war der einzige Grund weshalb ich noch nicht gesprungen war. Ob es ihr wohl genauso ging?

Schließlich tauchte urplötzlich ein weiteres Exemplar ihrer Art in der Ferne auf. Es zappelte wie wild umher und quäkte laut herum, während es schnell näher kam. Die Springerin wandte sich jedoch von dem anderen ab, das Andere schien sie zu nerven und nervös zu machen. Sie spannte ihre langen Beine an und starrte wieder in die Tiefe hinab, diesmal gedrängt, so, als ob der Fremde ihr etwas anhaben wollen würde, und zunehmend entschlossener. Ihr Artgenosse wurde lauter und stolperte beinahe, während er näher kam. Er schien in vollkommener Panik. Sie ignorierte ihn jedoch kaltherzig und beugte sich langsam vor, dem klaffenden Abgrund entgegen.

Freudig kreischte ich auf – nun wusste ich, dass sie gleich springen würde.

In dem Moment, in dem sie über die Klippe glitt, machte auch ich einen Satz über die Kante und schlug meine Flügel weit auf. Entsetzt fiel ich erst herab, doch dann fing der Wind meinen Fall ab und trug mich wieder in den Himmel herauf. Ich hatte es geschafft! Ich konnte fliegen! Endlich!

Ihr war es jedoch schlechter ergangen. Bedauernd schaute ich in die Tiefe hinab, während ich durch die Luft zu meinen Eltern und meinem Geschwisterchen hinüber schwebte und neben ihnen auf dem Felsen landete. Der Fremde auf den Klippen schaute ebenfalls ins Wasser auf sie herab, deprimiert. Unter uns Beiden erkannte ich den leblosen Körper meiner Mitspringerin auf dem Wasser treiben, reglos und klitschnass. Sie hätte es wissen sollen, dachte ich bedauernd und schüttelte mein Gefieder.

Menschen konnten nun mal eben nicht fliegen….

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