Deutsches Creepypasta Wiki
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Ich wache auf. Der raue Stoff der Bettdecke kratzt über meine Haut. Es ist wohl wieder einer dieser Tage. Immer noch verkatert drehe ich den Kopf. Ach ja stimmt, ich habe keinen Wecker. Ich brauche keinen. Ich habe die Routine. Mit brummendem Schädel versuche ich mich aufzurichten. Ohne Erfolg. Verdammt, ich bin noch nicht mal 40. Schlussendlich schaffe ich es doch. Klirrend fallen die Bierflaschen zu Boden, als ich die Decke zurückschlage. Ich schwinge mich zur Bettkante und schaue mich um. Verschwommen erkenne ich in dem winzigen Raum meinen Kleiderschrank. Nun, viel befindet sich nicht in ihm. Einige löchrige T-Shirts und Hosen. Mehr kann ich mir nicht leisten. Mein Blick fällt auf die billige Lampe in der Ecke. Funktioniert sie überhaupt? Die zerschlissenen Vorhänge erinnern mich an meinen Kater. Hach Felix, du warst so ein treuer Begleiter. Warum bist du an jenem Tag auf die Strasse gelaufen?

Ihr fragt euch jetzt, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreite. Nun, ich bin das, was die Menschen Abschaum nannten. Ich lebe vom Staat… oder so. Von euren Steuergeldern, ohne etwas zurückzugeben. Ihr denkt jetzt, dass das nicht viel ist? Ist es auch nicht. Das Bett habe ich mir aus ein paar Brettern selbst zusammengezimmert. Ich hatte eine Tischlerlehre. „Hatte“ beschreibt es ziemlich genau. Es gab einen Unfall. Ein guter Kumpel verlor das Gleichgewicht. Dabei sollte er nur einige Bretter zusägen. Ich erschien wochenlang nicht zur Arbeit. Anfangs hatte mein Chef noch Verständnis, aber mit der Zeit verlor er die Geduld. Ich flog. Mit wem rede ich überhaupt? Ist ja auch egal. Ihr wollt meine Geschichte hören? Nicht? Nun, da ihr schon mal da seid, könnt ihr ja auch bleiben. Meine Elte…verdammt, ihr sollt still sein, wenn ich etwas sage! Ich trete gegen das Bett.

Weitere Flaschen kullern zu Boden. Nie könnt ihr still sein. Haltet die Klappe! Tut mir leid. Ich hole tief Luft. Der Geruch nach kaltem Schweiss und Alkohol dringt mir in die Nase. Schwankend erhebe ich mich und gehe zum Fenster. Das blöde Ding klemmt schon wieder. Mit einem Ruck reisse ich es auf. Allerdings habe ich nicht mit dem Rückstoss gerechnet. Ich falle, direkt in den Berg von Glasflaschen. Das splitternde Geräusch dringt an mein Hirn. Seid doch endlich leise! Vorsichtig taste ich meinen Hinterkopf ab. Huu, Glück gehabt. Nur ein paar kleine Schnitte. Die glitschige Flüssigkeit wische ich an der Matratze ab. Ich muss sie demnächst sowieso Mal waschen. Langsam rapple ich mich auf. Der stickige Luftzug, der von draussen herein kommt, tut gut. Gewagt lehne ich mich aus dem Fenster. 26 Meter unter mir befindet sich nur gehärteter Beton. Einige morsche Bäume und vertrocknete Sträucher sollten ihm etwas Fröhliches verleihen, doch sie lassen ihn nur noch trostloser wirken. Wie wäre es, wenn ich mich einfach auf ihn fallen lassen würde? Jetzt gleich? Keiner würde es merken. Meine Nachbaren…welche Nachbaren? Hier wohnt schon ewig keiner mehr. Glaube ich zumindest. Jedenfalls habe ich auf dem Weg zur Tankstelle nie jemanden gesehen. Das bisschen Geld, das ich habe, liegt am ersten Montag im Monat in einem der vielen Briefkästen. Ich wohne, oder eher hause in einer Gegend, die ihr Reichen als Ghetto abstempeln würdet. Es gibt insgesamt acht Blocks. A bis H. Ich lebe in Block F. Er ist der, der bis jetzt am besten erhalten ist. Wie lange er das noch sein wird, weiss ich allerdings nicht.

Ich habe nicht wirklich Kontakt zu Menschen. Nur zum Tankwart. Er lächelt immer, wenn er mich sieht. Ich lege dann meine acht Kästen Bier und etwas zu essen auf den Tresen. Immer acht, nicht einen mehr oder weniger. Wenn er sie gescannt hat und das Gerätchen den Preis anzeigt, lächelt er erneut. Das heisst so viel wie: Danke für ihren Einkauf. Wenn er das Geld unter dem Tresen verstaut hat, packe ich meine Sachen in den Einkaufswagen. Er dient mir als Transportmittel. Bezahlt und verstaut werfe ich an der Tür immer einen Blick zurück. Er nickt dann, so als Bestätigung, dass ich gehen darf. Er ist kein Mann vieler Worte. Eigentlich spricht er überhaupt nicht. Aber das ist egal. Von mir zu dir. Wer bist du denn? Ein reicher Schnösel? Oder ein Penner von unter der Brücke? Wie? Du willst es mir nicht sagen? Das finde ich aber sehr unhöflich. Meine Mutter hat mich sehr gut erzogen, weißt du. Sie legte immer grossen Wert auf Respekt und Ordnung. Ok, eigentlich war das gelogen. Sie war immer stockbesoffen. Ich war froh, wenn sie bei irgendeinem Typen war, der sie durchnimmt. So hatte ich wenigstens meine Ruhe. Aber dein Vater, was ist mit dem, fragst du mich. Hmm, mal überlegen. Ne, tut mir leid, hab ich vergessen. Meine Schwester hat immer dafür gesorgt, dass ich genug esse und trinke. Ich mochte sie sehr gerne. Sie hat mir auch dabei geholfen, eine Ausbildung zu finden.

Ich hatte nicht wirklich einen Schulabschluss. Ich war eher ein Schullabschuss. Hihi, lustig, oder? Na ja, das Übliche halt. Kiffen, saufen, Leute zusammenschlagen für ein wenig Geld und weitersaufen. Meine Lehrer, das waren die Typen mit Brille, die einen anschreien, oder? Ja, ja genau die. Die haben mir immer gesagt, ich würde nie was erreichen. Ich hab ihnen dann immer irgendwas entgegen geschrien. Irgendwann hab ich dann aufgehört ins Schulgebäude zu gehen. Hat auch nicht wirklich jemanden interessiert. Hab dann mit den coolen Kids draussen geraucht. Apropos rauchen, wo sind meine Zigaretten? Ach ja, auf der Kommode. Die hat auch schon bessere Tage gesehen. Genüsslich zünde ich mir eine an. Tief ziehe ich den Rauch in meine Lunge. Ha, das tut gut. Scheiss auf die ganzen Ärzte. Wollen eh nur dein Geld. Wo war ich? Ach ja. Hab dann irgendwann gemerkt, dass es ganz ohne Job auch nicht geht. Bisschen gekellnert, bisschen gekifft. Mal da ein kleiner Raub, mal da ein paar Handys. Die alten Damen aber waren am lukrativsten. Voll gehängt mit Schmuck. Wie ein Weihnachtsbaum. Weihnachten war keine schöne Zeit. Da war meine Mutter meistens zuhause. Alle Typen hatten plötzlich Frau und Kinder, um die sie sich kümmern mussten. Scheisskerle. Interessierte sie doch sonst auch nicht. Meine Schwester war immer bei ihrem „Freund“. Eines Tages, ich glaube es war mein 17tes Weihnachten, kam sie nicht wieder von ihrem „Freund“. Meiner Mutter fiel es nicht auf. Mir schon. Es ist nicht so, dass ich stundenlang geheult hätte. Ihr kennt das doch. Ihr habt einen Hamster, oder Meerschweinchen, oder sonst irgendeins von diesen nervigen Viechern. Eines Tages stirbt es, ihr seid ein paar Tage traurig, und zwei Wochen später habt ihr es wieder vergessen. So ging es mir auch.

Habt ihr genug gehört? Nicht? Na gut, aber gebt mir ein paar Minuten. Ich gehe vom Fenster zurück und schliesse es. Ist eh viel zu kalt. Ich habe immer noch Kopfschmerzen. Vielleicht vertreibt eine Dusche auch die nervigen Stimmen. Das an mein Schlafzimmer angrenzende Bad ist genauso verdreckt wie der Rest der Wohnung. Schimmel hat sich breit gemacht und diverse kleine Tierchen kriechen an den Wänden und der Decke. Naserümpfend steige ich in die Duschkabine. Ups, die Kleider sollte ich vielleicht ausziehen, obwohl sie auch mal eine Wäsche verdient hätten. Ich drehe den Hahn auf. In der Erwartung auf eine entspannende Dusche fängt meine Haut an zu kribbeln. Oder ist es eines der Tierchen, das sich seinen Weg zu mir gebannt hat? Ein einzelner Wassertropfen fällt auf meine verfilzten Haare. Funktioniert der Dreck schon wieder nicht? Das ist schon das dritte Mal diese Woche. Welchen Tag haben wir überhaupt? Ich glaube, es ist ein Sonntag, sicher bin ich mir allerdings nicht. Wahrscheinlich ist es einer dieser Tage, an denen alles schief läuft. Ja, ja das wird es sein. Ich könnte wieder ins Bett gehen. Aber ich hab Hunger. Ich werde erstmal etwas essen. Frustriert steige ich aus der Kabine. In einem plötzlichen Anfall trete ich gegen die Scheibe der Dusche. Sie zerbricht. Nicht schon wieder! Jetzt muss ich den…wie hiess noch gleich der Typ, der Duschen repariert? Stimmt, ich habe gar kein Telefon. Es würde mir sowieso nichts bringen. Ich stolpere in die Küche. In der Hoffnung, dass ein wenig Musik die Kopfschmerzen vertreiben würde, schalte ich das Radio an. Nach einigen Minuten des Suchens, finde ich schliesslich eine funktionierende Frequenz. Glück gehabt. Ich nehme mir ein Brötchen aus dem Brotkorb, schneide den Schimmel weg und beginne es mit Butter zu beschmieren. Während ich dies tue, hallt aus dem billigen Lautsprecher ein mir allzu bekannter Liedfetzen: „Ich hab den Tod mal auf nem Trip getroffen und den Hurensohn unter den Tisch gesoffen.“ Welch bittere Ironie. Damals haben wir uns immer über den Typen lustig gemacht, der es gesungen hat. Heute bin ich genau in dieser Lage. Ich höre das Lied der Nostalgie wegen noch zu Ende und schalte das Radio danach aus. Während ich im Vorratsschrank nach einem noch essbaren Belag suche, kommen Erinnerungen an meine selbst gegründete Familie hoch. Wie alt war ich da? Hmm, nicht älter als 25. Glaube ich.

Ich hatte gerade einen Job als Türsteher gefunden, als ich sie eines Abends durch unsere Strasse taumeln sah. Das war an sich nichts Besonderes, es liefen ständig Schnapsleichen vorbei. Unsere Strasse lebte vom Alkohol. Und von den Frauen. Und von den Drogen. Und von den Schlägern. Ähh, nennen wir unsere Strasse einfach Ghetto. Klingt das gut? Also, ich sah sie, anscheinend sturzbetrunken durch unser Ghetto taumeln. Aus einem mir unerfindlichen Grund schaute ich sie mir genauer an. War es ihre teure Kleidung? Ihr diamantener Ring? Oder war es die dicke Wölbung an ihrer Hose, welche eine pralle Brieftasche versprach? Nein, eigentlich nichts von alledem. Ich ging zu ihr herüber. „Miss, kann ich ihnen helfen?“ Sie lallte mir etwas ins Ohr, das ich nicht verstand. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass sie noch relativ jung sein musste. So etwa mein Alter. „Entschuldigung, ich habe sie nicht verstanden.“ Damals war ich sehr höflich. Warum auch immer. Sie murmelte erneut etwas, was ich als „Ich hab mich verlaufen“ identifizieren konnte. Wahrscheinlich war sie von Freunden abgefüllt und dann vergessen worden. Ich war zwar kriminell, hatte aber trotzdem ein Herz. „Hatte.“ Schon wieder dieses Wort. Man kann mich sehr gut mit „hatte“ in Verbindung bringen. Alles was ich bin, war einmal. Damals hatte ich noch ein Leben. Damals hatte jeder noch ein Leben. Nicht jedes war gut, aber immerhin ein Leben. Mein Leben war zwar nicht schön, aber es beinhaltete noch Dinge, die ein Leben zu einem solchen machten: Sex, Freunde und etwas Richtiges zu essen.

Ich ziehe eine Dose aus dem Schrank und schaue hinein. Ein weisser Flaum hat sich auf dem Inhalt breit gemacht. Ich stelle sie zurück und suche weiter. Sie hatte mir damals noch verraten können, wo sie wohnt. Wohl erzogen, wie ich war, hatte ich sie nach Hause begleitet. Sie wohnte in einer der Gegenden, die ich sonst nur aus dem alten Röhrenfernseher kannte. Ihre Eltern waren mir unglaublich dankbar. Geld gaben sie mir trotzdem keines. Geizige Bastarde. Natürlich hatte ich mir meine Belohnung schon geholt. Den Ring verkaufte ich teuer und das restliche Geld versteckte ich. Zwei Wochen später war sie wieder da. Inzwischen wusste ich ja, wo sie wohnte.

Es wurde immer häufiger un…habe ich nicht gesagt, ihr sollt die Fresse halten, wenn ich etwas am Erzählen bin? Wie, was fragst du? Es interessiert mich einen Scheissdreck, was du fragen willst! Unterbrich mich nicht! Ich brauch ne Zigarette. Wütend wende ich mich vom Schrank ab und suche meine Glimmstängel. Gefunden! Ein Käfer kriecht darauf herum. Schmeckt nach Sand. Nächstes Mal sollte ich ihn vielleicht braten. Immer noch wütend, zünde ich mir zitternd eine Marlboro an. Ist die einzige Marke, die man noch bekommt. Nicht gut, aber besser als nichts. Na, jedenfalls kam sie jetzt immer öfter. Und sie war nicht immer komplett dicht. Falls ihr jetzt eine bewegende Liebesgeschichte hören wollt, vergesst es. Der Begriff „Familie“ von vorhin war ein wenig unglücklich gewählt.

Es ging etwa ein halbes Jahr, dann war sie schwanger. Ich habe sie gebeten es abzutreiben – na gut, eventuell habe ich es etwas direkter formuliert, aber sie hat es trotzdem bekommen. Es tut mir bis heute leid, was ich getan habe. Zumindest ein bisschen. Okay, ich will ehrlich zu euch sein. Sie war ein Spielzeug. Und jedes Spielzeug ist irgendwann abgenutzt. Und wenn es kaputt ist, muss man es entsorgen. Einen Monat später hatte ich ein neues. Meine nächste „Familie“ hielt allerdings nicht viel länger. Ich mochte Menschen noch nie gerne, was zwar paradox ist, da ich selber einer bin, aber egal. Als ich noch zur Schule ging oder mich zumindest dort aufhielt, war es noch ganz okay. Aber mit der Zeit wurde es schlimmer. Menschen sind Abschaum. Du bist Abschaum. Was? Schau mich nicht so an! Du bist für das verantwortlich, was geschehen ist. Ja gut, vorher war es nicht wirklich besser, aber du weisst, was ich meine. Meine Katze? Woher weisst du von ihr? Ich hab es dir erzählt? Hör auf zu lügen, du Stück Scheisse. Wütend schlage ich gegen den Schrank. Immer und immer wieder.

Ich weiss nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Der Schrank liegt in Trümmern, der vielleicht essbare Inhalt liegt überall verstreut und meine Arme und Hände sind mit Glasscherben gespickt. Die leeren Zigarettenschachteln bilden einen dekorativen Turm. Vorsichtig ziehe ich mir die Scherben aus der Haut. Erinnert mich an einen Film, hab aber vergessen, welcher. Die Sonne steht tief am Himmel. Ich denke, es ist später Nachmittag. Ich könnte die Zeitung lesen. Ach verdammt, blöde Angewohnheit, es gibt schon lange keine Zeitung mehr. Früher gab es eine. Aber das war bevor die Bomben fielen. Vielleicht ist das Funksignal stark genug für einen Fernsehsender. Ich schlurfe ins Wohnzimmer und lasse mich auf die zerfetzte Couch fallen. Mir fehlt meine Katze. Er hat mich verstanden. Er war für mich ein allwissendes Wesen. Er hat sich um mich gesorgt. Er war der Einzige, der jemals wirklich für mich da war. Niemand hat sonst mit mir geredet. Könnte aber auch daran gelegen haben, dass es niemanden mehr gab. Ich suche die Fernbedienung. Wo hab ich sie denn hingelegt? Ach ja, neben den Fernseher. Wie immer. Ich brauche meine Routine. Es ist einfacher, dieses „Leben“ zu ertragen, wenn sich jeder Tag gleich abspielt. Müde zappe ich durch die Sender. Überall nur weisses Rauschen. Zwischendurch taucht eine Puppenshow auf. Irgendwas mit Piraten oder so. Ich hasse Puppen. Schlussendlich gebe ich auf. Ich gehe zum Kühlschrank und hole mir den ersten Kasten Bier. Mit Schrecken stelle ich fest, dass fast keines mehr da ist. Ich hoffe, morgen kommt das Geld. Wie gerne würde ich jetzt Felix’ Fell unter meiner Hand spüren. Seinen kleinen Kopf in meiner Handfläche. Über das struppige Rückenfell gleiten. Und Felix würde schnurren und sanft meine Hand ablecken. Warum nur, Felix? Warum bist du an jenem Tag auf das Dach geklettert? Man sagt, eine Katze würde immer auf den Beinen landen. Aber wenn diese Beine einen Fall von 36 Metern ausgleichen müssen, nutzt ihnen das wenig. Ich öffne die erste Flasche und stürze sie in einem Zug hinunter.

Der Abend vergeht und die leeren Flaschen stapeln sich. Die gute Routine. Sie macht alles so viel einfacher. Ich sitze auf meiner Couch und höre den Stimmen zu. Zu Anfang haben sie mich genervt, aber mit der Zeit habe ich gelernt ihnen zuzuhören. Sie erzählen wunderbare Geschichten. Sie singen mit hellen Stimmen bezaubernde Lieder. Aber am schönsten ist es, wenn sie mit mir reden. Wir plaudern dann über Dinge wie zu…oh, du schon wieder…was willst du? Meine Geschichte zu Ende hören? Warum? Sie interessiert dich doch sowieso nicht. Ich bin nicht in der Stimmung dafür. Du kennst doch die Routine. Du darfst erst morgen früh wieder kommen. … Geh endlich! … Mann, verpiss dich! Ich will dich nicht sehen. Bitte geh jetzt! Du störst die Routine! Ausser mir vor Wut werfe ich eine Bierflasche nach ihm. Er soll endlich gehen. Er könnte meine sorgsam aufgebaute Existenz einfach so vernichten. Er gehört nicht hierher. Zumindest nicht jetzt. Ich werfe weitere Flaschen nach ihm, doch er bleibt stehen. Ich will dich nicht sehen! Hau ab! Wutentbrannt renne ich ihm entgegen. Doch er bleibt wie angefroren stehen. Langsam bekomme ich Angst. Er gehört hier nicht her. Alles gerät ins Bröckeln. Angsterfüllt renne ich ins Schlafzimmer. Panisch durchsuche ich den kleinen Medizinkoffer unter dem Bett. Es muss hier sein! Es muss einfach. Es muss, es muss, es muss. Überglücklich ziehe ich einen kleinen Beutel heraus. Darin befinden sich zwei farbige Tabletten. Ich schlucke sie ohne Wasser. Sofort merke ich, wie ich ruhiger werde. Meine Nerven entspannen sich. Mein Kopf wird kühl. Nicht nur mein Kopf. Es ist verdammt kalt hier drin. Ich schliesse das Fenster und lege mich aufs Bett. Ich glaube, dass noch ein paar Bier übrig sein müssten. Und ich habe Glück. Zufrieden trinke ich mich in den Schlaf.

Ein knarrendes Geräusch weckt mich. Wohl eher ein Poltern. Benebelt richte ich mich auf. Meine Augen gewöhnen sich relativ schnell an die Dunkelheit. Nein, nicht du schon wieder! Warum redest du mit mir? Das ist gegen die Routine. Du sagst mir, dass ich gehen soll? Wohin denn? Nach draussen? Bist du wahnsinnig? Du sagst mir, dass es schon geklingelt hat? Dass das Geld schon da ist? Nein, das kann nicht sein. Es ist immer noch dunkel draussen. Nein! Ich werde die Routine nicht brechen. Was sagst du da? Es gibt eine neue Routine? Aber das ist nicht nötig. Bist du sicher? Du lügst! Hör auf! Ich weiss nicht, ob ich dir glauben kann. Na gut. Ich vertraue dir. Bitte begleite mich. Hey! Hey wo willst du hin? Nein, lass mich nicht allein! Bitte komm zurück! Bitte! Tränenüberströmt renne ich zur Tür. Wo ist der Schlüssel? Wo ist der gottverdammte Schlüssel? Am Schlüsselbrett. Ja, da muss er sein. Huh, gefunden. Zitternd versuche ich aufzuschliessen. Keine Chance. Ich humple zurück ins Schlafzimmer und durchsuche den Koffer erneut. Mehrere Spritzen fallen mir in die Hände. Nadeln brechen und diverse Flüssigkeiten werden in meine Blutbahnen gepumpt, doch das ist mir egal. Ich muss die Routine befolgen. Es hilft nicht viel, aber immerhin bin ich jetzt ruhig genug, um die Tür zu öffnen.

Es dauert eine Weile, bis ich die 18 Stockwerke hinuntergehastet bin. Ich stürme durch das Foyer und die zerbrochene Eingangstür. Vor mir ragen hunderte Briefkästen empor. Ich fange an sie zu durchsuchen. Ich weiss nicht, wie lange es dauert, bis ich den braunen Umschlag finde. Mein Zeitgefühl hab ich schon vor langem verloren. Überglücklich reisse ich den Umschlag auf. Es ist weniger als sonst. Eine neue Routine? Heisst das, dass die Preise des Tankwarts gesunken sind? Ich schnappe mir den verbeulten Einkaufswagen und schiebe ihn rennend über den brüchigen Asphalt. An der Tankstelle angekommen entspanne ich mich. Langsam rolle ich durch die Regale und packe mein übliches Zeug ein. Als ich einen Blick zur Kasse werfe, erstarre ich. Jegliche Luft entweicht aus meinen Lungen. Der Tankwart ist weg. Der Tankwart ist verschwunden. Wie kann das sein? Wie kann er die Routine brechen. Du hast mich angelogen. Es gab nie eine neue Routine. Es gab immer nur die eine. Und ich habe sie gebrochen. Ich habe einen Fehler begangen. Tränen rollen über meine eingefallenen Wangen.

Eine lange Zeit stehe ich so da. Langsam begreife ich. Du wolltest mir helfen. Wolltest mich aus diesem Wahnsinn befreien. Es gab nie einen Tankwart. Es wird nie einen geben. Er hat nie existiert. Du wolltest mir einen Weg zeigen. Einen Weg raus. Raus aus den Abgründen. Ich habe dich verflucht. Habe dich beleidigt. Bitte verzeih mir. Ich danke dir. Ich werde dir auf ewig dankbar sein. Du hast mir gezeigt, dass es auch anders geht. Du hast mir gezeigt, wie es wirklich ist. Du hast mir gezeigt, wofür es sich zu leben lohnt. Hast mir gezeigt, was ein Leben überhaupt ist. Du hast mir die Erkenntnis gebracht. Du hast mir die Glückseligkeit gebracht. Ich weiss jetzt, was wichtig ist. Familie. Felix. Ich werde meinen treuen Freund suchen. Ich werde ihn finden. „Oh Felix, oh Felix, oh Felix.“ Das singe ich vor mich hin, während ich mir mit einer Rasierklinge die Pulsschlagadern durchschneide. „Oh Felix, oh Felix.“

Ich wache auf. Der raue Stoff der Bettdecke kratzt über meine Haut. Es ist wohl wieder einer dieser Tage. Immer noch verkatert drehe ich den Kopf. Ach ja, stimmt ja, ich habe keinen Wecker. Ich brauche keinen. Ich habe die Routine.

Aufnahme Start: Dr. Browinski. Projekt: Human Isolation. Tag 967. Subjekt zeigt kein verändertes Verhalten. Experiment wird fortgesetzt. Aufnahme Ende.

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