Deutsches Creepypasta Wiki
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Die Kirchenglocken läuteten. Ich lief durch die Straßen der nächtlichen Stadt. Meine nackten Füße prallten immer wieder auf die Kopfsteine, doch für Schuhe hatte ich kein Geld. Sie waren taub von der Kälte des einbrechenden Winters. Mit dem zerrissenen Kleid, das ich am Körper trug, versuchte ich, das Brot, welches mir der Bäckersjunge heimlich zugesteckt hatte, warmzuhalten. Hinter mir hörte ich die Schritte der Nachtwachen.

Sie hatten mich erwischt, wie ich vor dem Bäckersladen durch die Scheiben blickte, auf die Leckereien, die mir wohl bis zu Tod verwehrt würden, und dachten, ich hätte gestohlen. Ich bog in eine kleine Gasse ab. Immer noch folgten sie mir. Mit letzter Kraft zwängte ich mich durch einen Bretterverschlag und presste mich an die Wand, das Brot im Arm. Draußen hörte ich die Wachen fluchen. Nach einer gefühlten Ewigkeit gingen sie wieder.

Ich ging weiter in das alte, verlassene Gebäude hinein. Plötzlich hörte ich von links ein Knacken. Ich drehte mich um. "Tanna!" ein kleiner Junge von ungefähr acht Jahren hüpfte auf mich zu. Lachend umarmte ich ihn und zeigte ihm das Brot. Es war nicht viel, doch seine Augen leuchteten. "Das hat mir der Heinrich heimlich zugesteckt" erklärte ich. Plötzlich wurde er ernst.

"Warum haben dich die Wachen gejagt?" Ich drückte ihn. Obwohl ich selbst nur ein paar Jahre älter war als er, nahm ich die Rolle seiner Mutter ein.

"Sie dachten, ich würde stehlen, als ich in die Bäckerei sah."

"Aber warum jagen sie dich dann, wenn du es nicht tust? Warum hassen sie uns?" Erwiderte er trotzig.

"Sie haben Angst vor uns, weil wir anders sind als sie. Das ist alles." Tröstete ich ihn.

Seit vier Jahren kannte ich Nicky jetzt. Er war, so wie ich, ein Straßenkind. Seine Eltern waren entweder tot, oder er war ihnen egal, wie es bei meinen Eltern der Fall war. Als ich vier war, setzten sie mich aus. Seitdem schlug ich mich allein durch, klaute hier, bettelte da. Mein Kleid stammt von einem Mädchen, das sich erbarmt hatte und nachts ein Kleid herunterwarf, damit ich mich nicht mehr in einen Kartoffelsack hüllen musste.

Als ich Nicky damals traf, fühlte ich mich an mich mit vier Jahren erinnert und entschied, ihm zu helfen. Er wuchs mir schnell ans Herz. Das Haus, in dem wir jetzt lebten, hatte er ausfindig gemacht.

Wir gingen zu dem verrottenden Tisch, den die Besitzer des Hauses wohl nicht mitnehmen wollten, als sie wegzogen, und setzten uns. Es war kalt, eine Wand war sehr durchlöchert und gab den Blick auf einen winzigen Innenhof frei. Bevor Nicky seine Zähne in das Fleisch schlug, hielt ich ihn an. Seufzend begann er zu beten, und ich betete mit.

"Lieber Gott. Wir danken für unser tägliches Brot und Deine Güte und bitten Dich, uns weiterhin gnädig zu sein. Erfülle unsere armen, geschundenen Herzen mit Freude und Glück! Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!" ratterte Nicky herunter und griff nach dem Brot.

Er hielt nichts von unserem Schöpfer, doch ich wusste, dass er über uns wachte und uns lenkte. Dank ihm waren wir heute noch am Leben. Sonntags stahl ich mich oft in die Kirche, versteckte mich im Schatten, während der Pfarrer die Predigt hielt. Einmal hatte ein Kirchendiener mich bemerkt, seitdem bekam ich hin und wieder Oblaten zugesteckt.

Schweigend sah ich Nicky zu, wie er das Brot aß. Wegessen wollte ich ihm nichts. So gut hatten wir schon lange nicht mehr gegessen. Nach einer Weile ergriff Nicky das Wort.

"Ich habe gehört, dass die Leute unser Haus baufällig nennen. Was heißt das, Tanna?"

"Das heißt, dass sie Angst haben, dass es einstürzen könnte und sie es vermutlich abreißen."

Nicky konnte man mit der ungeschönten Wahrheit kommen, er verstand es.

"Das heißt, wir ziehen um? Aber wohin?"

"Das schauen wir dann. Jetzt gehen wir erstmal schlafen, es wird kalt."

"Tanna, was ist das da draußen?"

Er zeigte auf den Himmel. Es schneite. Hatte Nicky noch nie Schnee gesehen?

"Das ist Schnee. Es ist gefrorenes Wasser. Das heißt, es ist draußen besonders kalt. Und jetzt komm!"

Ich zerrte ihn von der kaputten Wand weg. In einer Ecke hatten wir aus alten Zeitungen einen Schlafplatz gebaut. Leider bot uns dort auch nichts Schutz vor der Kälte. Eng aneinandergedrängt verbrachten wir einen Großteil der Nacht. Mir war unglaublich kalt, ich zitterte am ganzen Körper. 'Gott, warum strafst du mich, bin ich doch so fromm?' dachte ich. ich sah, dass Nicky auch zitterte. Ich legte mich näher zu ihm, um ihn zu wärmen, doch es reichte nicht. Irgendwann schlief ich tatsächlich ein. Als ich dies tat, wusste ich, ich würde nicht mehr erwachen.

Schwärze. Überall Schwärze. Obwohl nein... Da hinten ist ein Licht! Ich renne darauf zu. Bestimmt ist dort der Himmel, war ich doch schließlich mein ganzes Leben lang gläubig. Das Licht aber scheint nicht näher zu kommen... Ich bleibe stehen, gehe langsam darauf zu. Wahrlich, es bewegt sich von mir weg.

"Gott, warum hasst du mich?" rufe ich in die Schwärze. Wider Erwarten erhalte ich eine Antwort.

"Ihr Menschen richtet das Schwert gegen euch selbst und eure Umwelt. Im Herzen habt ihr alle den gleichen Hass! Und du fragst, warum ich euch hasse?"

"Ich habe mein Leben nichts Verwerfliches getan und dich immer geehrt; doch du siehst mich, als wär ich jeder andere, der die Welt zerstört" klagte ich.

"Im Herzen seid ihr eh alle gleich. Du versteckst dich hinter deinem Bild von Gerechtigkeit? Nun, die gibt es nicht!"

"Das kann nicht sein! Du bist der liebe Gott, du hilfst der Menschheit doch!"

"Pah! Helfen! Ich bin Gott, aber nicht der liebe Gott: Ich hasse euch Menschen abgrundtief! Ihr betet mich an, vertraut auf meine Güte; doch wisst ihr nicht einmal, dass ich sie euch niemals geben werde. Und jetzt will ich dir mal etwas verraten: du wirst wieder auf die Erde gehen. Da du mich wenigstens immer verehrt hast, biete ich dir einen Handel an: wenn du... sagen wir... vierzig Menschen getötet hast, darfst du in den Himmel, wie ihr es nennt. Im Prinzip ist es das Nichts, aber das verkauft sich nicht gut, wenn ich sage: dann darfst du ins Nichts. ABER NACH DEINER ZEIT AUF DER ERDE WIRST DU DICH DANACH SEHNEN!

Crepka

Teil 2:

Hoffen

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