Deutsches Creepypasta Wiki
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Ihre ersten Worte hätten Papa sein sollen.

Zumindest hatte ich es mir gewünscht, wenn nicht sogar erwartet.

Aber eigentlich hätte ich wissen müssen, dass meine störrische Kleine niemals so etwas Unbedeutendes wählen würde, um ihre Sprache zu finden; dazu war sie zu einzigartig, ihr Verhalten zu ungewöhnlich und die Umstände ihres Daseins zu merkwürdig.

Sie war ein Frühchen; kam einen Monat zu schnell auf die Welt, so als hätte sie irgendwo irgendetwas Dringendes zu erledigen, das sich keine einzige Sekunde länger aufschieben ließ. Natürlich war meine Süße zu diesem Zeitpunkt ein ziemlich hässlicher, nur mit zusammengekniffenen Augen identifizierbarer Haufen, doch die Hormone in meinem Körper stellten etwas mit meinen Rezeptoren an, sodass meine Tochter ab diesem Zeitpunkt stets ein unnatürlich wunderschönes Leuchten zu umgeben schien, von dem ich mich niemals gänzlich losreißen können würde.

Ich fand das eigentlich ekelige Ding plötzlich unglaublich niedlich und wusste sofort, dass ich mein Leben für sie geben würde. Das nannte man wohl die „Freuden des Vaterseins“. Ich malte mir schon damals in Gedanken aus, mit welchen Waffen sich zukünftige Anbeter wohl am besten von ihr fernhalten lassen würden, und fand in meinem plötzlichen Persönlichkeitsumschwung nichts Beunruhigendes. Väter waren die Beschützer ihrer Töchter. Das war vollkommen normal. Besonders, wenn das eigene Kind etwas ganz Besonderes zu sein schien.

Mia war schon während ihrer Geburt seltsam, da sie schweigend aus ihrer Mutter hervorbrach, jedoch kräftige, kleine Atemzüge einsog und somit nicht nur die Hebamme vor ein unlösbares Rätsel stellte. Aber es blieb keinem in dem Kreissaal eine großartige Wahl. Wir einigten uns darauf, dass das neugeborene kleine Mädchen ein ungewöhnliches kleines Mädchen war, und beließen es bei einem Schulterzucken, nur um zu feiern, nachdem ich ihr Sekunden später die Nabelschnur durchtrennt hatte.

Im Nachhinein betrachtet hätten wir uns ohnehin nicht so viele Sorgen über ihr stilles Gemüt machen, und es einfach dankbar akzeptieren sollen. Denn als mein Engel das Schreien lernte, lernte sie es so richtig.

Meine Frau machte irgendwann einmal einen Witz darüber, wie unsere Tochter die Stimme einer besonders lieblichen Nachtigall hätte, und im Erwachsenenalter sicher zu einer berühmten Opernsängerin heranwachsen würde. Doch Mias Schrei klang natürlich nicht wie der Schrei eines gewöhnlichen Kindes. Es war das panische, rohe Kreischen eines verwundeten Tieres, welches deutlich mehr Dämonisches als Himmlisches in seinem trommelfellzerreißenden Sopran vereinte. Ihre Stimme war einschneidend, grässlich und dazu auch noch laut, sodass ich den so reizenden Anblick meiner süßen Tochter manchmal vergaß, wenn ich nur ihr Gezeter hörte. Aber sobald ich sie dann wieder im Arm hatte, konnte sie herumbrüllen, wie sie wollte.

Ich liebte meine Kleine.

Für immer und ewig.

Mir blieb keine andere Wahl.

Ich und meine Frau wechselten uns damit ab, wer wann im Keller schlafen durfte, und wer wann auf unsere kleine Teufelsbrut achtgeben musste. Unsere Augenringe wuchsen und unsere Nerven wurden weit über ihr Belastungsextremum gespannt. Früher hatten meine Frau und ich und kaum gestritten, doch mittlerweile klang jedes Wort aus ihrem Mund wie eine Anschuldigung, genau wie jeder meiner halbherzigen Bestätigungen ihrer Wünsche uns ein wenig mehr auseinandertreiben ließ. Doch ich nahm an, dass es vorübergehen würde, sobald Mias „Schreiphase“ (so nannte es zumindest ihr behandelnder Kinderarzt) endlich endete.

Nach sechs Monaten war unser Baby noch genauso vokal wie eh und je, und ich war froh, dass wir dank eines großen Waldgrundstückes recht weit von fremden Augen- sowie Ohrenpaaren entfernt waren. Sie schien sich nur dann zu beruhigen, wenn ich ihr vorlas, und irgendwann begann ich, meinem Engel ganze Romane vorzutragen, welche sie natürlich mit dem typischen Desinteresse eines Kleinkindes über sich ergehen ließ.

Generell hatte Mia stets etwas Abwesendes an sich, mit den großen, verklärten Augen, die sich nie so richtig auf einen Ort zu fixieren schienen, oder den kleinen, knubbligen Händen, die sich in alle Richtungen ausstreckten, jedoch nie so richtig nach etwas griffen. Ich fand sie manchmal beinahe gruselig, wenn sie für ein paar Sekunden still war und teilnahmslos einer Wand gegenüber hockte – so anders als andere Kinder, die sich alles in den Mund steckten, was in einem Radius von zwei Metern in der Gegend herumlag.

Wir gewöhnten uns daran und lernten dazu. Schließlich änderten unsere halb panischen, halb belustigten Reaktionen ja ohnehin nichts an Mias seltsamen Wesen, das nach einer Weile beinahe goldig zu sein schien. "Das ist das Stockholm-Syndrom.", witzelte meine Frau einmal treffend, als ich festgestellt hatte, wie idiotisch es doch war, das Ding, das einem das Leben zerstörte, so bedingungslos zu lieben. Jedes Mal, wenn sich unser Kind wieder merkwürdig verhielt, reagierten wir mit demselben, allmählich monoton werdendem Satz darauf:

„Mia ist eben anders.“

Auch, dass sie nicht gestillt werden, sondern ihre Milch stets aus der Flasche bezog, beunruhigte nur mich und meine Frau – der Kinderarzt teilte unsere besorgte Meinung nicht. Es gäbe solche Vorfälle in seiner Branche nun einmal öfter, was wir als Laien natürlich nicht nachvollziehen konnten. Wir sollten uns einfach damit abfinden, dass unser Mädchen etwas besonders sei, und in Ruhe ("Kennt der Idiot unsere Tochter?", flüsterte mir meine Frau nach dem Verlassen seiner Praxis zu.) darauf warten, dass ihre "Schreiphase" irgendwann vorbei ging.

Kopfschmerztabletten und Ohrstöpsel wurden zu einem Alltagsgegenstand unseres Haushaltes. Schlaflose Nächte auch nur zu einer längeren Ausdehunung unserer Freizeit. Mir und meiner Frau fehlte nach einer Weile die Energie zum Streiten, und wir fanden wieder näher zueinander; die wenigen stillen Minuten, in denen Mia praktisch in Ohnmacht fiel, verbrachten wir mit leisem Kichern und spielerischen Neckereien.

Als unsere Tochter jedoch ihren ersten Geburtstag feierte, entschieden ich und meine Frau uns dazu, einen Säuglings-Psychiater aufzusuchen (Ja, die gab es tatsächlich. Auch mich ließ diese Information zuerst mit einem Schmunzeln zurück, aber dann keimte die Hoffnung auf.). Auch diese Ärztin bestätigte uns, dass Mia in bester Gesundheit sei und wir nichts zu befürchten hätten. Doch ich und meine Frau ließen nicht locker. Wir hatten das Gefühl, dass Mias oft so leer scheinenden Augen und der ungewöhnlich weit aufgerissene Mund mit dem teilnahmslos heraustropfenden Sabber etwas zu bedeuten hatten. Und nach einigen Untersuchungen hatten wir die Bestätigung.

Es handele sich um eine weit verbreitete Emotionsregulationsstörung. Es handele sich um Borderline. Meinen ungläubigen Ausruf - "Bei einer Einjährigen?!" – quittierte meine Frau mit einem in meine Seite gerammten Ellenbogen und der an die Psychiaterin gehenden Aufforderung, doch bitte mit ihren Erklärungen fortzufahren.

Wir sollten Mia bestimmte, spielerhafte Interaktionen zeigen, und unsere Kleine nachahmen, bis sie unser Verhalten verstand und ebenfalls mitspielte, indem sie an ihrem Daumen nuckelte oder mit uns lachte. Natürlich gaben wir unser Bestes, meist so verbissen, dass wir den jeweils anderen dabei unbeabsichtigt zum Lachen brachten. Nur Mia blieb unbeeindruckt. Und sie schrie.

Erst einige Monate nach ihrem Geburtstag sprach Mia das erste Mal.

Meine Frau war in diesem Moment im Bad verschwunden und ich gerade dabei gewesen, mein Kind wie ein kompletter Volltrottel nachahmend auf dem Boden herumzukrabbeln. Doch dann setzte sie sich urplötzlich auf, starrte mich mit verklärten, tränengefüllten Augen an, die nicht so recht in das Gesicht eines so jungen, goldigen Kindes mit derart rosigen Wangen passten, und öffnete ihren Mund.

Zeitgleich hob sie einen sonst unkoordinierten Arm mit einer erschreckenden Zielsicherheit, um in einer deutlichen, durch einen winzigen, dicklichen Finger beinahe komisch wirkenden Geste zur geschlossenen Badezimmertür zu deuten. Ich rührte mich nicht, als Mias ungeübte, helle Stimme unangenehm durch die abrupt entstandene Ruhe ihres Kinderzimmers schnitt.

Am liebsten hätte ich die folgenden Worte nie gehört.

Warum hatte sie nicht einfach Papa sagen können?

„Nicht Mami.“, winselte meine Tochter und dabei schüttelte sie ihren im Vergleich zum Körper unproportional großen Kopf, dass blonde Locken in alle Richtungen davonstoben. Mia weinte. Ihr Arm fiel wieder zurück an ihre Seite. Ich konzentrierte mich darauf zu atmen, aber ehrlich gesagt war ich so überfordert, dass schon das eine beinahe unbewältigbare Aufgabe für mich darstellte.

Mein Kopf fuhr zum Badezimmer herum. Die Tür öffnete sich knarrend, was mich daran erinnerte, dass ich diese wieder einmal ölen sollte. So alltäglich. So natürlich. Als wäre nichts Ungewöhnliches an dieser Situation zu finden.

Meine Frau blieb im Türrahmen stehen und hatte die Haare zu einem Dutt gesammelt: Eine Frisur, die sie vor Mias Geburt verabscheut hatte.

Dann sah ich die Reflektion ihres Rückens in dem großen Badezimmerspiegel. Erst jetzt bemerkte ich die beinahe unsichtbare, feine Narbe, die sich über die Gesamtheit ihres Nackens über den Rücken hinab bis unter das Nachthemd schlängelte, und sich auf beiden Seiten ihrer Beine bis zu den Fersen hinabzog. Sie war hellrosa und irgendwie aufgequollen, wirkte wie eine kunstvoll eingefügte Naht, die irgendein Kleidungsstück wieder zusammengeflickt hatte, und nun nur noch ein verblichenes Testament an den ehemaligen Riss im Stoff darstellte.

„Meine Frau“ trat aus dem Badezimmer heraus auf uns zu.

Mia begann wieder zu schreien.

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